Emigration

Schwierigkeiten

Neue Anfänge: Hanna Reuters Leben nach der Rückkehr nach Berlin

In einem Brief an ihre Schwiegermutter vom 16. April 1937 schrieb Hanna Reuter: „Sonntags gehen wir jetzt bei gutem Wetter mit Rucksack und Bekannten und Kindern auf Wanderungen. Bei schlechtem Wetter gibts Sonntagnachmittagskaffee, die Reihe herum.“
Das Leben im türkischen Exil verlief sehr viel ruhiger, als die Familie es aus Berlin und Magdeburg gewohnt gewesen war: Ernst Reuter hatte deutlich weniger Termine wahrzunehmen und verbrachte viel mehr Zeit mit seiner Frau und den Kindern. Ab 1939 lebte neben dem jüngsten Sohn Edzard auch Ernsts Tochter Hella bei ihnen in Ankara, während der älteste Sohn Gerd Harry in England blieb, dort zur Schule ging und später Mathematik studierte. So waren die Jahre in der Türkei trotz mancher Umstellungen auch von Familienglück geprägt. Hanna Reuter verband ihren Fokus auf die Familie mit ihrer Liebe zur Kunst: Anlässlich der Geburtstage von Edzard organisierte sie Theaterstücke und übernahm dabei die Regie. 1939 berichtete Ernst darüber in einem Brief an seine Mutter: „Edzis Geburtstag ist sozusagen das Ereignis der Saison jedes Mal, denn die Kinder spielen dann ein Theaterstück, dass sie mit viel Eifer und viel Emotion vorher einüben […]. Hanna macht bei allem die Regisseurin und versichert, dass sie diesem ehrenwerten Beruf jetzt ganz anders Verständnis entgegenbringt und ihn ganz anders würdigt als zuvor [vermutlich als sie als Kritikerin Theaterstücke rezensierte].“




Hanna Reuter fühlte sich in der Türkei nie heimisch – unter anderem, weil sie nicht mehr von der Sprache lernte als das, was sie zum Einkaufen benötigte. Eine zusätzliche Belastung ergab sich aus dem Umstand, dass der Arbeitsvertrag ihres Mannes anfangs immer nur um ein Jahr verlängert wurde. 1938 bekam er einen Lehrauftrag für Kommunalwissenschaft an der Hochschule für Politische Wissenschaft in Ankara. Auch die Verlängerung der deutschen Pässe und der Aufenthaltserlaubnis hing von der türkischen Arbeitsgenehmigung ab. Jedes Mal war der Gang Ernst Reuters zum türkischen Konsulat für Hanna Reuter, die als Ehefrau eine passive gesellschaftliche Stellung innehatte und nicht selber aktiv sein konnte, mit großem Bangen verbunden. In Edzard Reuters Erinnerung glich dieser Prozess für seine Mutter „Jahr für Jahr neu einer wahren […] zitternd miterlebten Folter“.
Äußerst belastend waren für Hanna Reuter während des Zweiten Weltkriegs auch die siegesversprechenden „Sondernachrichten aus dem Führerquartier“ und zugleich die nie endende Sehnsucht nach der Heimat. Die türkische Lebensweise blieb ihr fremd. Aus einer damals wie heute verbreiteten eurozentristischen Perspektive heraus bewertete sie Vieles als rückständig und primitiv. Sie litt unter den körperlich anstrengenden klimatischen Bedingungen in Zentralanatolien, der großen Hitze und unter dem sehr begrenzten Kreis an sozialen Kontakten. Ihren Mann wollte sie mit ihren Sorgen nicht belasten. In Hanna Reuters Aufzeichnungen findet sich der Satz: „So lebte ich, außerhalb unserer kleinen Familie sehr allein, vor allem die Bücher gaben mir Trost.“




Edzard Reuter erinnerte sich später an seine Aufregung während der Reise mit dem Orientexpress in die Türkei: „Alles wurde jedoch von der nervösen Spannung der Mutter überlagert, die dem Wiedersehen mit ihrem Mann entgegenfieberte und zugleich so unsicher war, was euch erwartete. Um so größer die Freude und Erleichterung, als euch der Vater auf dem Bahnhof in Istanbul in die Arme schloß. Seine ersten Worte waren voller Zuversicht, dass ihr in der Türkei eine gute Chance haben würdet, die Hitlerzeit gesund und ungefährdet hinter euch zu bringen.“