Biografie
Bildnachweis »© Landesarchiv Berlin, F Rep. 290, Nr. 0081763 (Alois Bankhardt).
Bildnachweis »© Landesarchiv Berlin, E Rep. 200-21 (Fotos), Nr. 1127.
Ernst Reuter und Berlin
Die Biografie Ernst Reuters ist in besonderer Weise mit der Geschichte Berlins verknüpft. Wer das wechselvolle Schicksal der Stadt im 20. Jahrhundert verstehen will, der kommt an seiner Person nicht vorbei. Neben Willy Brandt zählt er zu den herausragenden Politikern, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Entwicklung maßgeblich prägten. Unvergessen ist seine Bedeutung während der sowjetischen Blockade der Stadt 1948/49. Damals wurde er zur wichtigsten Stimme der Berlinerinnen und Berliner für Freiheit und Demokratie. Mit seiner Rede am 9. September 1948 vor der Ruine des Reichstagsgebäudes rief er die „Völker der Welt“ dazu auf, die Menschen in ihrem Kampf um Selbstbehauptung zu unterstützen. In einer entscheidenden Stunde gab er der Entschlossenheit der Bevölkerung Ausdruck, auf der richtigen Seite zu stehen, die eigene Freiheit zu behaupten und sich nicht dem Willen Stalins zu beugen.
Ernst Reuter machte in der Krise den Unterschied. Viele Jahre später würdigte der amerikanische Diplomat John J. McCloy seine Verdienste mit den Worten: „Er war das Symbol für die Standhaftigkeit der Freien Welt, als der Fall Berlins eine große Katastrophe für die Zukunft Europas gewesen wäre.“ Auch wenn sich die Teilung der Stadt und des ganzen Landes nicht verhindern ließ, verstand Reuter West-Berlin als eine „Insel der Freiheit“. Die Stadt sollte wie ein Leuchtturm über den Eisernen Vorhang hinweg auf die andere Seite wirken. Das Los der Menschen in Ost-Berlin und in der DDR bewegte ihn, und er forderte von den Westdeutschen Verständnis und Solidarität mit diesen ein. Als schließlich – 36 Jahre nach Reuters Tod – die Friedliche Revolution in der DDR 1989/90 die SED-Diktatur stürzte und sich der Weg zur Wiedervereinigung abzeichnete, war es erneut Berlin, das im Mittelpunkt des Geschehens stand. Damit trat genau das ein, was Reuter und andere Politiker bereits vier Jahrzehnte zuvor gehofft hatten: Berlin war der Schlüssel zur Lösung der deutschen Frage und der Brückenkopf zur Einheit.
Dabei stammte Ernst Reuter gar nicht aus Berlin – bei ihm handelte es sich um einen „Zugezogenen“. Geboren wurde er 1889 in Apenrade, einer kleinen Hafenstadt an der Ostsee, die seit 1920 zu Dänemark gehört. Historische Tonaufnahmen mit Reuters Stimme lassen im Tonfall die norddeutsche Herkunft erkennen. Kurze Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam er als junger Mann nach Berlin in der Erwartung, hier, im politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Zentrum des wilhelminischen Kaiserreichs, seine berufliche und politische Zukunft aufzubauen. Und wie viele andere brauchte er eine Weile, um sich mit dem rauen Charme der Metropole zu arrangieren. „Berlin selbst ist mir höchst unsympathisch“, schrieb er in einem Brief an die Eltern: „Staub und entsetzlich viel Menschen, die alle rennen, als ob sie die Minute 10 Mark kostete.“ Und doch wurde die Stadt zum zentralen Bezugspunkt in seinem Leben.
Bildnachweis »© Landesarchiv Berlin, F Rep. 290, Nr. 0000846_C (Horst Siegmann).
Spuren in der Stadt
Die Spuren Ernst Reuters, die sich heute in Berlin finden, sind zahlreich. Früher oder später stößt jeder auf sie, der hier lebt oder nur für ein paar Tage zu Besuch kommt. An vielen Orten ist die Erinnerung an ihn präsent. So trägt ein großer Platz in der City West unweit des Bahnhofs Zoologischer Garten seinen Namen, ebenso ein Heizkraftwerk, ein Konzertsaal, eine Schule, eine Jugendherberge und ein Ausflugsdampfer, der im Sommer über die Flüsse und Seen der Umgebung fährt. Die traditionsreiche Freie Universität feiert jährlich den Ernst-Reuter-Tag in Erinnerung an den wichtigen Beitrag des Politikers bei der Gründung der Hochschule. Es gibt Gedenktafeln, Denkmäler und sogar eine Ernst-Reuter-Linde, die am Großen Stern im Tiergarten steht. Bei dem Gewächs handelt es sich um den ersten Baum, der 1949 vom damaligen Oberbürgermeister bei der Wiederaufforstung des Parks gepflanzt wurde. Die „grüne Lunge“ der Stadt hatte während des Zweiten Weltkriegs schwere Zerstörungen erlitten. Die Neupflanzung symbolisierte ein Stück Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Diese Seite des Wirkens des „Blockadebürgermeisters“ ist immer noch relativ bekannt. Hingegen ist kaum geläufig, dass Ernst Reuter bereits in den 1920er Jahren als Stadtrat für das Verkehrswesen tätig war. Der Ausbau des U-Bahnnetzes und die Gründung der damaligen Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft (BVG) wären ohne ihn in dieser Weise kaum möglich gewesen. Reuter trug mit seiner Verkehrs- und Stadtplanung erheblich dazu bei, die Großstadt den Erfordernissen der Moderne anzupassen. Heute wird der öffentliche Nahverkehr in Berlin von drei Millionen Passagieren täglich benutzt. Die wenigsten dürften wissen, wem sie das einigermaßen funktionierende Verkehrsnetz in seinen Anfängen zu verdanken haben.
Bildnachweis »© Landesarchiv Berlin, E Rep. 200-21 (Fotos), Nr. 564.
Bildnachweis »© Landesarchiv Berlin, F Rep. 290, Nr. 0048721 (Gert Schütz).
Kommunalpolitiker im „Zeitalter der Extreme“
Wer sich mit Ernst Reuter beschäftigt, dem begegnet also ein befähigter und vielseitiger Politiker, der sich für die Belange der Menschen in seiner Stadt besonders einsetzte. Aber es würde zu kurz greifen, Reuters Leben einzig auf diesen Aspekt zu beschränken. Über die Kommunalpolitik hinaus verdichteten sich in seiner Biografie wie in einem Brennglas die großen Zäsuren des letzten Jahrhunderts. In seinem Lebensweg spiegelte sich nicht nur das Schicksal Berlins, sondern auch das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm). Er lernte das Wesen der totalitären Ideologien ebenso kennen wie den Wert der freiheitlichen westlichen Demokratie. Wie eng sein Werdegang mit den Wendungen des frühen 20. Jahrhunderts verflochten war, wird aus dem folgenden Umstand ersichtlich: Reuter kannte Lenin und Stalin persönlich und traf später als Wortführer des „freien Berlins“ im Weißen Haus mit Präsident Dwight D. Eisenhower zusammen.
Hatte Ernst Reuter als junger Mann zunächst den Weg in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) gefunden, führte das Erlebnis der russischen Revolution 1917 bei ihm zu einer politischen Radikalisierung. Nach einer Phase als Anhänger der Bolschewisten und als Kommunist fand er Anfang der 1920er Jahre zur Sozialdemokratie zurück. Der SPD blieb er danach fest verbunden, wurde aber nie ein „Parteisoldat“. Stets bewahrte er sich den kritischen Geist und die Unabhängigkeit.
Von 1931 bis 1933 war Ernst Reuter Oberbürgermeister von Magdeburg. Als Stadtoberhaupt gehörte der Kampf gegen die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu den größten Herausforderungen. Bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde er im März 1933 gewaltsam aus dem Amt gedrängt. Unter dem neuen Regime gehörte er zu jenem Personenkreis, der Verfolgungen ausgesetzt war. Zweimal wurde er von der Gestapo verhaftet und ins KZ Lichtenburg verbracht. Schließlich gelang ihm die Flucht aus Deutschland. Von 1935 bis 1946 fand er mit seiner Familie Aufnahme in der Türkei. Hier wurde er Zeuge des tiefgreifenden Reformprogramms unter Mustafa Kemal Atatürk, der in einer „Revolution von oben“ mit den Traditionen des Osmanischen Reiches brach und den jungen Nationalstaat modernisieren wollte. Reuter leistete als Berater und Hochschullehrer auf dem Gebiet der Urbanistik einen Beitrag zu diesem Wandel. Er bildete eine ganze Generation von Verwaltungsexperten, Regierungsbeamten und Stadtplanern aus. Für diese Tätigkeit wird ihm in der Türkei bis auf den heutigen Tag hohe Anerkennung entgegengebracht.
Nach der Rückkehr nach Deutschland drängte Ernst Reuter die besondere Situation Berlins auf die Bühne der großen Politik. Die Stadt wurde Ende der 1940er Jahre zum Hotspot des Kalten Krieges. Hier trafen nicht nur die Interessen der beiden Supermächte USA und Sowjetunion direkt aufeinander, sondern mit ihnen auch zwei gegnerische Gesellschafts- und Wertesysteme. Entscheidungen, die in Berlin getroffen wurden, konnten globale Auswirkungen haben, und die politische Großwetterlage hatte wiederum Folgen für die Situation Berlins. Anfang der 1950er Jahre zählte Ernst Reuter in Washington, London und Paris zu den bekanntesten deutschen Politikern. Zahlreiche Reisen ins Ausland, wo er für die Sache seiner Stadt eintrat, brachten ihm den Ruf ein, ein „Außenminister“ Berlins zu sein. Er warb für Vertrauen in die Deutschen und für Unterstützung. Nur fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und angesichts der ungeheuren Verbrechen, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft begangen worden waren, war das alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Bildnachweis »© Landesarchiv Berlin, F Rep. 290, Nr. 0011319 (Bert Sass).
Bildnachweis »© Landesarchiv Berlin, F Rep. 290, Nr. 0008967 (Bert Sass).
Dienst an der Gemeinde
Doch wie dachten die Berlinerinnen und Berliner selbst über ihren Bürgermeister? Zwar ist es kaum möglich, die Meinungen sämtlicher Menschen auf einen Nenner zu bringen. Doch in den Beständen des Landesarchivs Berlin werden tausende Briefe aufbewahrt, die aus der Bevölkerung an Ernst Reuter gerichtet waren. Gemeinsam mit anderen Dokumenten vermitteln sie das Bild eines überaus beliebten Stadtoberhaupts. Immer wieder tauchen in den Briefen Formulierungen auf, die ihn als einen „Vater“ der Berlinerinnen und Berliner bezeichnen. Die große Verehrung erklärte sich nicht zuletzt daraus, dass er seine Arbeit als Dienst an den Menschen verstand. Mit dem Wertekompass eines Sozialdemokraten ausgestattet und den eigenen Prinzipien stets verpflichtet, verfügte er zugleich über das Gespür, in der Politik den Unterschied zwischen dem Wünschenswerten und dem Möglichen zu erkennen. Er versteckte sich nicht hinter einer Phraseologie, sondern benannte bestehende Probleme in einer klaren, allgemein verständlichen Sprache. Anderen Meinungen und Argumenten gegenüber zeigte er sich aufgeschlossen und respektierte sie, selbst wenn sie nicht den eigenen Ansichten entsprachen. So erklärte er bereits 1931 in einem Rundfunkvortrag, dass jeder Chef einer Stadtverwaltung seine Aufgabe darin sehen müsse, „im gemeinsamen Interesse der zu betreuenden Stadt widerstrebende Elemente zu gemeinsamer Arbeit auf breiter Basis zusammenzuführen.“
Reuter verstand sich zuvorderst als Kommunalpolitiker. Das Wirken in und für die Gemeinde war für ihn nicht eine nachrangige Angelegenheit, die gegenüber der „großen Politik“ zurückzustehen habe, sondern sie machte den Wesenskern des politischen Handelns aus. Er gab den Menschen in schwieriger Zeit Halt, Orientierung und Zuversicht. Seine zugewandte Art strahlte hohe Glaubwürdigkeit aus. Willy Brandt nannte es später einen „Glücksfall“, dass Reuter Berlin durch die Nachkriegszeit gesteuert habe: „Vita und Wesen ließen ihn aus der Aufgabe – schwer und schön in einem – machen, was irgend zu machen war.“
Wie sehr er von den Berlinerinnen und Berlinern verehrt wurde, zeigte sich eindringlich im September 1953: Als die Nachricht vom Tod Ernst Reuters bekannt wurde, legte sich tiefe Trauer über die Stadt. Am Tage des Begräbnisses säumten hunderttausende Menschen die Straßen, um „ihrem“ Bürgermeister die letzte Ehre zu erweisen.
(Der Text basiert auf der Einleitung von Michael C. Bienert in Ernst Reuter. Freiheit. Berlin, Melbourne 2022. Der Titel sowie das englische Original sind über den Verlag Ueberschwarz erhältlich.
↑ Bildnachweis Headerbild© Landesarchiv Berlin, E Rep. 200-21 (Fotos), Nr. 564.